Le Petit Boucle – Mein Date mit der Tour de France (3/5)

Stage 2: Servoz – Cote de Domancy – Montée de Plaine Joux – Servoz – 46km, 1.200 Höhenmeter, 3h20m

Am Besten Du liest die Geschichte der Reihe nach – falls Du zufällig hier gelandet bist, dann starte am Besten mit dem Prolog. Hier geht es weiter mit der 2. Etappe

Heute ist nicht nur der erste echte Tag meines Radl-Wochenendes, es ist nicht nur ein wundervoll sonniger Sommertag, nein es ist vor allem der 14. Juli, französischer Nationalfeiertag. Oder “Bastille Day”, wie meine Lieblings-Podcaster diesen Tag immer nennen. An diesem Tag versuchen traditionell die Franzosen, die Etappe zu gewinnen, Deutsche haben heute höchstens eine Außenseiter-Chance. 

Erstmal gibt es noch etwas von gestern Abend nachzuliefern. Nach dem Abendessen habe ich nämlich den Plan, den ich seit Wochen vorbereitet habe, kurzerhand über den Haufen geworfen. Statt über den Col de la Ramaz zu fahren (was eine Anfahrt mit dem Auto beinhalten würde), der auch Teil der morgigen Etappe ist, beschließe ich, einfach vor meiner Haustür loszufahren und die Anstiege direkt in meinem Tal auszukundschaften. Dass ich dann doch (zufällig und/oder aufgrund meiner doch nicht ausreichenden Planung) einen Teil einer Etappe abfahre, merke ich erst hinterher.

Frühstück: Schwarzer Maschinenkaffee, Toast mit der neu erworbenen Confiture Artisanale Citron. Danach ne Banane – weil Banane und Radeln ist immer eine Gewinner Kombination

Ich schlüpfe also mit meinen frisch rasierten und sonnengecremten Beinen in meine Radlerhosen, ziehe mein Lieblings-Trikot drüber und stopfe mir die Trikot-Taschen voll mit

  • 2 Müsliriegeln
  • 1 kleinem Geldbeutel (mit großen Scheinen)
  • Flickzeug und Luftpumpe (ich hab zwar einen Ersatzschlauch und eine Patrone für eine Reifenfüllung in meiner Satteltasche, aber wenn – wie neulich hinter Weilheim – beide Reifen einen Platten haben, hilft mir das auch nicht viel weiter. Und weil ich mich mit dem ÖPNV hier nicht so auskennt und das Heimschieben sehr anstrengend sein könnte, gehe ich auf Nummer sicher)
  • Handy. Wegen der Fotos. Die Navigation macht nämlich mein Fahrradcomputer am Lenkrad von alleine. Der fiepst immer, wenn bald ne Abzweigung kommt. Und quietscht, falls ich mich verfahre

Ich schiebe das Radl auf die kleine Straße zwischen L’Eglise und Marie, schwinge mich auf den Sattel und es geht los. Ich bin zurück! Zurück auf den französischen Landstraßen! Zuerst geht es viel bergab, dann unten quer durchs Tal, über den Fluß und in das Örtchen Domancy. Dort wartet ein Anstieg auf mich, der laut meinen Unterlagen schon öfter Teil der Tour-Route war. Was ich erst nacher herausfinde ist, dass er auch ein sehr wichtiger Teil der diesjährigen Tour Route ist. Dort führt nämlich das Zeitfahren am Dienstag vorbei! Wenn ich das gewußt hätte… hätte ich vielleicht zu viel Angst davor gehabt, so war das jetzt schon richtig, da unvoreingenommen ranzugehen.

Auf der Verkehrsinsel vor dem Anstieg steht nicht nur ein übergroßes Fahrrad-Kunstwerk, wie man es auf der Tour immer wieder auf Kreisverkehren sieht, daneben steht auch ein echtes Rennrad, mit einer Frau daneben. Und der Mann dazu steht am Rand des Kreisverkehrs, macht ein Foto und ruft Anweisungen. Engländer offenbar.

Ich fahre also um die Verkehrsinsel und um die Engländerin herum und biege ab auf die Cote de Domancy – hinter dem Plakat mit Bernard Hinault, der hier 1980 die Weltmeisterschaften gewonnen hat, als sie 20 mal(!!!) diesen Anstieg hochgefahren sind, beginnen 2 km Schmerzen bei 10% Steigung. Kleinster Gang (aber nicht klein genug), Tritt für Tritt, die Luft steht still, um 10 Uhr morgens ist es hier schon sehr sehr warm, die Sonne brennt mir direkt auf den Rücken. Weit und breit kein Schatten – dafür schon einige Wohnmobile am Straßenrand und Hinweisschilder auf die Tour de France. Aber noch ist es total still. Und heiß. Die Welt hält den Atem an… und ich schnappe auch ganz schön nach Luft. Bekomme plötzlich Bauchkrämpfe (hatte ich noch nie beim Radeln) und mir wird schwindlig (das hatte ich schonmal, 2018, als ich mit dem Jogo den Anstieg zum WM Kurs zu schnell angegangen bin). Also biege ich kurz auf einen Parkplatz im Schatten und halte kurz an. Be friendly to yourself. And don’t forget to breathe

Es dauert nicht lang, dann höre ich ein Allez Allez Allez von der Straße. Es ist der Engländer, der offenbar einen Ticken fitter ist als ich… jetzt also nix wie hinterher. Auf einem steilen Stück Straße wieder aus dem Stand loszufahren, ist nicht ganz ungefährlich, letztes Jahr bin ich ja in einer ähnlichen Situation aus dem Stand einfach umgefallen. Und hab mir meinen Ellenbogen aufgeschlagen und die Schaltung ruiniert. Aus dem Stand. Wie peinlich. Aber heut klappts und ich bin erstaunt, wie gut das wieder rollt nach so einer kurzen Pause (das macht Hoffnung für die nächsten Tage). Voraus also der Engländer, dahinter ich, ca. 100m hinter mir sehe ich seine Frau. Also nicht nachlassen, auf keinen Fall von ihr überholen lassen, das Momentum hochhalten und die letzten Meter durchziehen. Oben treffe ich also meinen Engländer-Freund und wir kommen ins Gespräch. Die beiden sind bis Donnerstag hier, Tour de France schauen und radln. „You are from Germany, right? You’re english is excellent“ – „Your’s too :)“ (Der Preis für die schlagfertigste Antwort geht definitiv an mich, aber ihm ist entweder nicht nach Scherzen zumute, oder er hat den Witz nicht kapiert…)

Von dem “Gipfel” des kurzen Anstiegs geht es die große Bundesstraße rechts runter nach Sallanche, ich bin noch ganz in Gedanken wegen des spannenden Anstiegs und des unerwarteten Small Talks (immerhin reise ich ja alleine und schweige daher die meiste Zeit), bevor ich es also richtig merke, bin ich mitten in einem Eurosport-Traum! Eine kleine französische Stadt im Bastille Day Fever! So süß, so bunt, so viel Blumen, so viele Fahnen. Hier soll mein erster Coffee Stop sein. Bei dem großen Kaffee, das seine Tische auf dem Marktplatz stehen hat. “Une grand cafe creme et une croissant, sil vous plait”

Frage mich, ob es Blasphemie ist, wenn ich das Croissant jetzt nicht über den Klee lobe. War eher eine 7 von 10, mir hat das teigige, softe in der Mitte gefehlt. Was mir außerdem auffällt? Ich kann von meinem Platz aus 3 (!!) CBD Läden sehen. Was ist denn da los? Aber alle scheinen geschlossen oder out of business zu sein. Ist der CBD-Goldrausch etwa schon vorbei? Gab es neue Gesetze von Macron? Wo bleibt der Grünwesten Protest? Sind alle zu gechillt um sich aufzuregen?

Gestärkt geht es jetzt zurück quer durch das Tal und über den Fluß, zu meinem richtigen Test für heute! Der Montée de Plaine Joux, 14km bei 5.5%, über 800 Höhenmeter. Die ersten km sind zum Einrollen auf einer gesperrten Straße (auch dieser Teil ist Zeitfahr-Strecke vom Dienstag, nur in anderer Richtung – und so wurde noch einiges an der Straße ausgebessert. Ich habe generell das Gefühl, dass die meisten Straßen im ländlichen Frankreich in einem bedauernswerten Zustand wären, gäbe es die Tour de France nicht, und somit einen Grund, ab und an die Straßen wieder zu sanieren), ich erreiche das Örtchen Passy (Moment, wir waren grad in Sassy, jetzt Passy?), wo es am Kreisverkehr links hoch geht, jetzt wird es etwas bissiger, kleinster Gang, aber alles noch in gutem Flow machbar. Fühle mich strong, aber hab schon die Sonnenbrille abgesetzt und den Reißverschluß vom Trikot halb runtergezogen. Kurz vor dem Plateau D’Assy (Häh?) wird es richtig hart, das hab ich zwar schon kommen sehen (das war das wichtigste Learning aus meinem Kroatien-Trainingscamp: Anstiege ganz genau vorbereiten, wissen, wo es steil wird und wann es wieder besser wird), aber bei ca. 2km und 9-10% erwartet mich in etwa die gleiche Qual wie bei der Cote de Domancy. Aber ich komme besser durch, vermutlich wegen dem Koffein-Boost, der so ziemlich genau jetzt seinen Maximal-Schub liefert.

Das Schöne an den Anstiegen hier in den Alpen ist, dass von unten bis oben in jeweils 1 km Abstand Schilder stehen, auf denen man sieht, wie weit es noch zum Gipfel ist und wie steil der nächste Kilometer im Durchschnitt ist. Was aber komisch ist, dass ich mich an die Schilder 10km, 9km, 8km, 7km und 6km nicht erinnern kann. Entweder war ich total im Tunnel oder mein Navi hat mich doch ein paar Mal eine andere Schleife hochgeführt, als der offizielle Anstieg vorsieht. Das gute daran: Als das 5km Schild vollkommen überraschend auftaucht, beginnt mein echter Höhenflug!

I am flying, dancing on the pedals, eating into the gap, snapping the elastic – all die Standard-Sätze der Eurosport Kommentatoren klingen in meinen Ohren! Es ist immer noch hart, aber ich habe meinen Rhythmus gefunden. 4km, 3km, 2km und  schließlich das 1km Schild – Flamme Rouge, der Teufelslappen, das Signal für den Zielsprint. Vor lauter Freude vergesse ich, den Record Knopf auf meinem Handy zu drücken, um ein Video aufzunehmen. Aber ich fühle mich gut genug, nochmal umzudrehen, um das 1km Schild zu fotografieren und danach meine (glänzenden und glänzend arbeitenden) Beine zu fotografieren. Und dann passierts: Das Ziel ist in in Sichtweite, ich gehe aus dem Sattel, um die Trittfrequenz auf den letzten Metern hoch zu halten, da höre ich ein Swoosh, Swoosh, Swoosh und ein junger Kerl in einem Ag2R Trikot schießt an mir vorbei und holt sich den Etappensieg. Ein Franzose offenbar, also gönne ich ihm das, heute, am Bastille Day

Ich bin oben. 

Expectation: Stille. Aussicht. Nur ich und der Berg. 

Reality: Totales Casino – Autos, Menschen, Hunde. Großes Durcheinander. Lädt eher nicht zum Verweilen ein

Ich finde das “Arrivée” Schild meines Anstiegs und mach ein Beweis-Foto. Dann bestell ich mir in einem Restaurant eine Cola auf Eis. Die Cola trinke ich, das Eis kippe ich dann in meine Trinkflasche, nach über 1 Stunde Aufstieg der Sonne entgegen ist das alles ne ziemlich warme Brühe geworden. So sitze ich und genieße stolz den tollen Ausblick auf den Mont Blanc. 

Und dann kommt der unangenehme Teil: Die Abfahrt (warum das so ist, werde ich nachher noch erklären). Mein komoot hat mich vor meiner Abfahrts-Route gewarnt „Die Wegoberfläche an manchen Stellen ist möglicherweise ungeeignet“. Möglicherweise? Ungeeignet? Nach ein paar hundert Metern Abfahrt muss ich wortwörtlich vom Rad steigen und für ca. 1km auf meinen Rennradschuhen über Schotter-Waldwege wackeln, stets bemüht, nicht auszurutschen, während die Bergauf-Wanderer mich fassungslos anschauen. Irgendwann wird dann der Single Trail aber ne Straße und ich schieße bergab meiner Hütte entgegen. 

Kurz vor zuhause komme ich am Dorfplatz vorbei – auf dem es drunter und drüber geht wegen Bastille Day. Auf der Wiese ist eine Kreis mit Gittern abgesperrt, in der Mitte ein kleines Planschbecken mit Wasser, drumherum junge Menschen mit verschiedenfarbigen T-Shirts, offenbar sind das verschiedene Teams irgendeines Wettbewerbs. Ich bleib kurz stehen und schaue dann völlig entgeistert zu, wie ein junger Stier (!) aus einem Lastwagen gelassen wird, der dann auf die Leute aus 4 Teams losgeht, die derweil versuchen, mit einem gebogenen und daher völlig ungeeigneten Draht, Gegenstände aus einem Schwimmbecken zu fischen. Und das Volk johlt. Weil ich überhaupt nicht fassen kann, was ich sehe, schiebe ich das auf die Hitze und geh nach Hause. Duschen. Essen. Schlafen

Und morgen?

wird es Zeit, die Tour de France zu besuchen, auf dem Col de Ramaz

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